„Wenn du schnell sein willst, geh allein. Wenn Du weit kommen willst, geh mit anderen zusammen.“

Vorstellungsrede zur Kandidatur als Skriba vor der Kreissynode Aachen 2020

Hohe Synode, mein Name ist Jens-Peter Bentzin und ich bewerbe mich um das Amt des Skriba. 

Was mich dazu bewogen hat, was ich mitbringe und wo ich mich engagieren möchte, habe ich in der kurzen schriftlichen Vorstellung bereits beschrieben. Das möchte ich jetzt nicht wiederholen.

Ich möchte vielmehr etwas Persönliches sagen über mich – und darüber, wie ich Leitung und Kirche sehe, darüber, wie ich sie verstehe und leben möchte.

Ich finde im Nachdenken darüber Anregungen in einer Anekdote und in einem Sprichwort.

1. Zunächst die Anekdote.

Vor wenigen Wochen fand in Nordengland, in der anglikanischen Diözese Leeds, zu welcher Aachens Partnerstadt Halifax gehört, die jährliche Synode statt – auch per Zoom übrigens. Der dortige Bischof Nick Baines eröffnete die Synode wie üblich mit einer Ansprache. Und in ihr erzählte er folgende kleine Geschichte: 

„Ich erinnere mich, dass ich in Cambridge ein Führungstraining für Bischöfe absolviert und unseren Dozenten in der Warteschlange zum Mittagessen gefragt habe, wie sich die Arbeit mit Bischöfen im Vergleich zu den üblichen Kunden der Schulungseinrichtung verhält – leitende Angestellte, Vorsitzende großer Unternehmen, Unternehmensleiter. Der Dozent sagte: ‚Es gibt zwei Dinge, über die diese nicht sprechen: Scheitern und Tod.‘ ‚That’s funny‘, antwortete ich, ‚that’s where we start – Das ist ulkig, hier fangen wir an.‘“ Soweit Bischof Nick.

Und es stimmt. Wir als Kirche sind nicht die Gemeinschaft der Perfekten und sollen sie auch in der Leitung auf allen Ebenen nicht vorgaukeln. Wir sind endlich. Begrenzt. Wir scheitern, werden aneinander schuldig, versäumen es, einander in liebender Geschwisterlichkeit zu begegnen. Viele ernüchtert dieses Alltagsgesicht von Kirche. Ich verstehe das. Aber es tröstet mich auch. Denn es heilt mich von Machbarkeitsphantasien. Und predigt mir Barmherzigkeit, diesen kostbaren Schatz des Glaubens.

Paulus das bekanntermaßen und sehr treffend so ausgedrückt (2. Kor 4,7): „Wir tragen diesen kostbaren Schatz, obwohl wir nur zerbrechliche Gefäße sind.“

Aus Gottes lebendigem Geist, dem Geist der Vergebung und des neu geschenkten Anfangs in Christus haben wir in der Kirche die Chance, gemeinsam auch und gerade als fehlende, versagende und begrenzte Christenmenschen – eben als zerbrechliche Gefäße – dieses fragile, wunderbare, verrückte und immer noch so wichtige Projekt Kirche zu gestalten und zu leiten.

2. Zweitens: ein Sprichwort. 

Im Internet habe ich es irgendwo gelesen. Und wenn es kein afrikanisches Sprichwort ist, wie es dort hieß, dann ist es zumindest gut und passend erfunden:

„Wenn du schnell sein willst, geh allein. Wenn Du weit kommen willst, geh mit anderen zusammen.“

Ich beziehe das auf Jesus und seinen Rat aus der Bergpredigt: „Und wenn dich jemand zwingt, eine Meile mitzugehen, so gehe mit ihm zwei.“ (Matthäus 6, 41)

Die „zweite Meile“ ist so etwas wie eine Richtschnur für mich geworden.

Sie ist ja nicht nur Verzicht oder asketische Übung. Ganz im Gegenteil – die zweite Meile enthält viele Chancen. Wir kommen miteinander ins Gespräch. Die Motive werden geklärt. Standpunkte werden nicht einfach nur ausgetauscht, sondern im wahrsten Sinne des Wortes in Bewegung gebracht. 

Das kann sogar Kritiker, Skeptiker und Querulanten, die mich eigentlich nur in ihre Spur, auf ihre eine Meile zwingen wollen, nachdenklich machen. Es können aus Feinden tatsächlich Freunde werden und gemeinsam auf dem Weg bleiben.

Und es sind solche Erfahrungen mit Kirche, die zwar besonders kostbar, aber auch gar nicht so selten sind. Es steht dann nicht in der Zeitung, es wird still im Alltag erlebt. 

Dabei kann die zweite Meile sehr schweißtreibend und geschäftig sein – aber auch sehr still und in sich gekehrt. 

3. Aber so möchte ich schließlich Leitung leben

Ich kenne das. Oft muss ich mich erst lange beraten – beim Laufen, im Gebet, im Gespräch – ich weiß, dass ich mich auf meine Intuition längst nicht immer verlassen kann. Ich weiß um meine Grenzen und brauche dann meine Zeit.

Da gefällt es mir sehr gut, dass unser Bischofsamt, dass Leitung in unserer Kirche kollegial, kollektiv, geschwisterlich ausgeübt wird. Dass das sehr gut funktioniert, habe ich in unserer Kirche an vielen Stellen schon oft erlebt. Und ich freue mich sehr, dass Sie dem Superintendenten gerade erneut Ihr Vertrauen ausgesprochen haben!

So gehen wir gemeinsam, um weit zu kommen.

Davon möchte ich mich in der Leitung gut leiten lassen, in meinen Grenzen, aber auch mit meinen Gaben und Fähigkeiten – und würde mich über Ihr Vertrauen für diesen gemeinsamen Weg sehr freuen. 

Vielen Dank!

זכור – Rede am 9. November 2004 – Aula Carolina

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich darf Sie ganz herzlich zu unserer Gedenkstunde hier in der Aula Carolina im Namen des Vorstandes der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Aachen willkommen heißen. 

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten hunderte Synagogen in ganz Deutschland und Österreich, wurden über 1000 Geschäfte und Wohnungen geplündert, fast 100 Menschen wurden in jener Nacht ermordet. Auch in unserer Stadt, auch in unserer Region brannten die Synagogen, zerstörte der Mob unterstützt und geduldet von Polizei, Feuerwehr und Verwaltung, unter den Augen der Öffentlichkeit, ohne Widerspruch von den Kanzeln und Altären u.a. die prächtige Synagoge am Promenadenplatz. In Klage und Scham gedenken wir heute hier wie an vielen Orten in ganz Deutschland der Opfer der zügellosen, gottvergessenen und menschenverachtenden Gewalt, die vielfach verstanden wird als Auftakt dessen, was wir als Shoah bezeichnen, aber was dann doch alle Vorstellung in ihrer Abgründigkeit letztlich übersteigt. 

Wir gedenken heute der Opfer, beklagen den unermesslichen Verlust an Menschlichkeit, aber auch an gemeinsamer christlich-jüdischer Kultur und Identität. 

In Deutschland im Jahre 2004 der Zeit des barbarischen Dritten Reiches zu gedenken heißt nicht, sich mit abgeschlossenen Kapiteln einer abstrakten und fernen Geschichte zu beschäftigen, sondern heißt immer wieder auch sich der Frage nach der eigenen Identität zu stellen. Ich komme als evangelischer Christ in Deutschland jedenfalls um diese Frage nicht herum. Ich begebe mich auf die Reise zu mir selbst und versuche die Anteile in mir an dem, was diesen Tag des Gedenkens ausmacht, zu entdecken und ihnen zu begegnen. Davon will ich erzählen. Suche Worte eines Gespräches in mir und mit mir.

Im Sommer begab ich mich mit meiner Frau auf eine Reise durch Deutschland. Wir besuchten Weimar. Der Geist von Weimar, ein sehr deutscher Geist, so sagt man, spukt durch unsere Geschichte. Doch welche Gestalt hat er, in welche Worte kann man ihn gießen, diesen Geist?

Ich wandere durch die Stadt. In der Stadtkirche sehe ich den berühmten Klappaltar von Lucas Cranach dem Älteren mit der Darstellung des reformatorischen Geschehens, mit dem Porträt Martin Luthers und dem Porträt Johann Friedrich des Großmütigen, Kurfürst in Sachsen. Der gekreuzigte Christus in der Mitte. Ich spüre etwas vom Pathos der Freiheit, der Ungebundenheit meiner Erlösung, aber auch vom Pathos des Gehorsams, der Einbindung in die Macht – oder besser auch der Unterwerfung unter die Macht der Obrigkeit. Weimar – nicht weit von der Wartburg entfernt, Thüringen, das Kernland der Reformation. Protestantische Wurzeln. Und ich weiß, dass Weimar zur Zeit Luthers und lange nach ihm – welch furchtbares Wort! – „judenrein“ galt. Ich weiß von Luthers Haltung den Juden gegenüber. Ein nebeneinander von Christen und Juden ist insbesondere für den späten Reformator nicht denkbar. Ich lese ein maßloses, ja mordbrennerisches Traktat von 1543 „Von den Juden und ihren Lügen“ und spüre die Scham bei mir. Aufbruch und abgebrochenes, nicht gesuchtes Gespräch, jener Geist. Ein Teil meiner christlich-protestantischen Identität. 

Ich wandere durch die Stadt. Ich stehe vor dem herzoglichen Schloss und denke an Johann Sebastian Bach, Hoforganist in Weimar. Der Komponist so vieler bis heute beflügelnder Musik, Abglanz himmlischer Herrlichkeit – aber auch der Passionen, die in der Tradition die antijudaistischen Passagen der biblischen Passionsgeschichten transportieren. Aufbruch und abgebrochenes, nicht gesuchtes Gespräch, jener Geist. Ein Teil meiner biblisch-theologischen Identität. 

Ich wandere durch die Stadt, stehe am Frauenplan vor Goethes Wohnhaus. Dichterfürst und titanischer Geist. Unsterblicher Faust, Ausdruck der Abgründigkeit menschlichen Begehrens und Strebens. Reaktionärer Minister, Gegner freiheitlicher Bestrebungen, unerbittlicher Zensor. Aufbruch und abgebrochenes, nicht gesuchtes Gespräch, jener Geist. Ein Teil meiner kulturell-politischen Identität. 

Ich wandere durch die Stadt. Ich stehe vor der Bauhaus Akademie. Aufbruch in die Moderne. Mitbestimmungsrecht in der Ausbildung, Dadaisten und Konstruktivisten treffen sich 1922 zu einem Kongreß in der Stadt. Avantgarde und übernationales Empfinden. Walter Gropius, Mies van der Rohe, Marcel Breuer, Wassily Kandinsky. 1925 schon wird das Bauhaus aus der Stadtvertrieben. Muffige, ängstliche, antimodernistische Haltung setzt sich durch, bringt die Ausstellung entartete Kunst schließlich in die Stadt. Aufbruch und abgebrochenes, nicht gesuchtes Gespräch, jener Geist. Ein Teil meiner kulturell-künstlerischen Identität. 

Ich wandere durch die Stadt. Nationaltheater, Ort der Entstehung der ersten für wenige Jahre funktionierenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Deutschland. Ebert, Stresemann, Rathenau, – die Jahre des Aufbruchs in ein anderes Deutschland. Und ich weiß um Baldur von Schirach. Glühender Anhänger der Nationalsozialisten, überzeugter Antidemokrat, als sogenannter Reichsjugendführer giftiger Einpeitscher und Verführer der Jugend, verbrecherischer Antisemit und – Sohn der Stadt. Hitler ist in kaum einer anderen deutschen Stadt so oft und so gerne gewesen wie in Weimar. Ich wage kaum darüber nachzudenken. Worte verschwimmen langsam. Der Geist wird vollends zum Ungeist. Meine Identität?

Und ich wandere schweigend über ein großes steiniges Feld. Brutale, weite Leere. Ein Tor oben auf dem Berg über dieser Stadt. „Jedem das Seine“ steht darauf. Den Stumpf einer uralten Eiche kann man sehen, in deren Rinde einst Goethe und Eckermann ihre Initialen eingeritzt haben sollen. Von Häftlingen 1944 gefällt, denn sie stand mitten in Buchenwald, Konzentrationslager vor den Toren der Stadt. Die Steine schreien stumm den Mord, die versuchte Entmenschlichung, die medizinischen Experimente, die Krankheit, den Hunger, die Perversion. Tausende sind nach den Novemberpogromen 1938 per Bahn hierher gebracht worden. Und Tausende und Tausende und Tausende werden hier sterben. Und ein Grab werden sie nicht finden. Ausgelöscht sollten sie sein – für immer. Ohne Namen. Zerbrochene, zertretene, verbrannnte Heiligkeit des Lebens. Ich wispere, Worte versagen – ein Teil meiner gebrochenen Identität als Mensch in diesem Land, auf dieser Welt.

Es stimmt: manches kann man nur schweigend austauschen – in stummer Klage. Im Gebet. Im „der-Leere-Raum-geben“. 

Und es stimmt: wir sind miteinander zum Gespräch, zur Wachsamkeit gerufen, vielleicht gerade deshalb, weil wir nicht – wie es zur Zeit wieder behauptet wird, das Böse nur im Anderen vermuten dürfen, sondern wir ihm bei uns begegnen werden. Der Weg in unsere zwiespältige Identität, das lehrt uns die biblische Rede von der Geschöpflichkeit, verbindet uns alle. Das zu wissen tut Not. Das Gespräch, der Dialog, der Aufbruch zum Anderen führt mich letztlich zu mir, führt dazu, dass ich so erst wirklich ich selbst werden kann. Es ist der Ruf zum wirklichen Leben, zur Beziehung, zum Anderen, zum Du. Martin Buber sagt es so: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ 

Und ich bin deshalb besonders dankbar, dass wir heute wieder wie in den vergangenen Jahren diese Gedenkstunde zusammen gestalten können mit Jugendlichen dieser Stadt, dass wir einander begegnen. Fast 50 Jahre christlich-jüdische Zusammenarbeit in dieser Stadt, dass heißt 50 Jahre Einsatz für die Möglichkeit zur Begegnung, zum Wissen um den Anderen, um mich, zum Gedenken, zum wirklichen Leben. Lassen Sie uns nicht müde werden, so das klagende Schweigen zu teilen, so miteinander um Worte zu ringen und so zu Taten zu schreiten. Der mörderische, großsprechende Wahn darf nicht triumphieren – nie und an keinem Ort. Der Opfer willen – und uns selbst willen, der Heiligkeit des Lebens willen.